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  • AutorenbildManuela König

Elektroautos, Krieg und Teilemangel: Neue Impulse für türkische Autoindustrie

Ukraine-Krieg und Teilemangel machen die Türkei für die Autobranche interessanter als bisher schon. Mit der Marke Togg hat das Land zudem eigene E-Auto-Pläne.​

Auf dem Bild sieht man ein Bläuliches Auto, im Hintergrund sieht man viele Menschen, das Auto steht in einer Austellung.
Ein Elektroauto unterm symbolträchtigen Olivenbaum: Togg auf der CES in Las Vegas 2022. Toggs Standort Gemlik ist eine der weltweit größten Olivenproduktionsregionen. (Bild: pressinform)

Die Türkei ist ein Schwergewicht in der Autoindustrie – die Großen der Branche lassen dort seit Jahrzehnten fertigen. Eigene Marken waren nie erfolgreich, doch nun will mit Togg (Türkiye'nin Otomobili Girişim Grubu) ein Unternehmen den Weg Richtung Elektroautofertigung einschlagen. Derweil wird die Türkei trotz drückender Inflation interessanter für die Autoindustrie, seit die Zulieferer nicht mehr im üblichen Umfang in der Ukraine fertigen lassen können und die globalen Lieferketten nachhaltig überlastet sind.


Die Türkei hat eine mehr als 50-jährige Geschichte der Autoindustrie. Das Land ist als Produktionsstandort für Fahrzeuge und die Zulieferindustrie seit vielen Modellgenerationen gesetzt. Hersteller wie Ford, Toyota, Renault, Fiat oder Mercedes fertigen ihre Fahrzeuge bereits seit vielen Jahren am Bosporus.


Das geplante 300.000-Fahrzeuge-Großwerk von Volkswagen wurde 2019 nur durch die zunehmend angespannte politische Lage verhindert, die nach wie vor einige Autohersteller abhält zu investieren, während die Zulieferindustrie hier weniger Berührungsängste hat. Der Schwerpunkt der Fahrzeugfertigung liegt seit langem bei leichten und schweren Nutzfahrzeugen.


Europaweit auf dem vierten Platz


Jetzt will Togg als türkischer Autohersteller aus dem Schatten heraustreten und die Türkei auch als Elektrostrandort interessant machen. Auch wenn es der Türkei wirtschaftspolitisch aktuell alles andere als gut geht, werden die Entwicklungen schon aufgrund der schwierigen Situation in der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland mit zunehmendem Interesse beobachtet.


Rund 250 globale Unternehmen nutzen die Türkei aktuell als Produktionsstandort. Von den weltweit 50 größten Automobilzulieferern sind 30 in der Türkei ansässig. Die Fahrzeugproduktion ging 2021 gegenüber dem Vorjahr in Europa um vier Prozent zurück. In der Türkei betrug der Produktionsrückgang zwei Prozent und belief sich auf 1,27 Millionen Fahrzeuge, womit die Türkei weltweit auf Platz 13 vor Großbritannien oder Italien rangiert und europaweit den vierten Platz belegt. In der Nutzfahrzeugproduktion ist die Türkei mit 493.305 Einheiten Spitzenreiterin in Europa. Im Zeitraum Januar bis Mai belief sich die Gesamtproduktion der türkischen Automobilindustrie auf 513.000 Einheiten.


Jährlich 200.000 Ford E-Transit aus der Türkei


Von der steigenden Bedeutung der Elektroautos verspricht sich die Türkei in Zusammenhang mit der schwierigen Situation neue Chancen. Eine davon bietet der Hochlauf der Elektroautoproduktion bei Ford, der in der Türkei seit Jahrzehnten seinen Transporter-Evergreen Transit baut. Auch die neue Elektroversion wird bei Ford Otosan hergestellt. Hierfür wurden 2,2 Milliarden US-Dollar investiert, damit jährlich 200.000 E-Transit die Fertigung in Kocaeli verlassen können.


"Das Kocaeli-Werk von Ford Otosan ist das Herz der Transit-Produktion in Europa und die Feierlichkeiten zum Produktionsstart des vollelektrischen E-Transit läuten das nächste Kapitel in unserer starken Partnerschaft ein", sagte Hans Schep, General Manager Ford Pro, Europa. "Dies ist ein großer Transformationsschritt am Standort Kocaeli, hin zu einem bedeutenden Zentrum zur Herstellung von elektrifizierten Ford-Nutzfahrzeugen für europäische Märkte".


Der Ford Transit mit Verbrennungsmotor gehört zu den langlebigsten Ford-Modellen in Europa und ist weltweit eines der beliebtesten Nutzfahrzeuge. In den vergangenen 50 Jahren wurden davon mehr als 10 Millionen produziert und abgesetzt. Auch Toyota und Renault – lokal durch Oyak Renault vertreten – fertigen in der Türkei aktuell Hybridversionen verschiedener Modelle.


Togg soll neue türkische Elektrogroßmarke werden


Den Elektrotrend will auch das Start-Up Togg nutzen, das auf der Consumer Electronic Show in Las Vegas Anfang des Jahres seinen großen Auftritt hatte. Hinter Togg steht ein Konsortium türkischer Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen, das aus der Anadolu Grubu Holding A.Ş., BMC Otomotiv Sanayi ve Ticaret A.Ş., Turkcell İletişim Hizmetleri A.Ş., Zorlu Holding A.Ş. und der Union der Kammern und Warenbörsen der Türkei besteht. An dessen Spitze der Turkey's Automobile Initiative Group steht mit Mehmet Gürcan Karakaş ein CEO, der drei Jahrzehnte an verantwortlichen Stellen in der Autoindustrie arbeitete – zuletzt verantwortlich für die Elektroantriebe bei Bosch.


Erstes eigenes Elektroauto im ersten Quartal 2023


Togg sieht sich weniger als traditioneller Autohersteller, sondern als Anbieter einer offenen Mobilität, bei dem das Auto als smartes Device nur eines der verschiedenen Module ist. Auf der CES enthüllte Togg unter CEO Gürcan Karakaş mit einem elektrischen Fastback einen Ausblick auf das erste Serienfahrzeug, das im ersten Quartal 2023 zunächst zu den türkischen Kunden rollen soll. Danach sind – zunächst für den eigenen Markt – eine Limousine und ein Fließheckmodell geplant. Togg ist nicht zuletzt als politisches Projekt zu sehen, denn ein eigener Autohersteller aus der Türkei für die heimische Bevölkerung, das war nicht zuletzt eine Herzensangelegenheit des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der sein Land in den europäischen Wirtschaftskreislauf einbringen will.

Auf dem Bild sieht man ein Elektroauto in der Farbe Grau, Schwarz von der Marke Togg
Ob die Limousine von Togg die Portaltür-Anordnung behält, ist nicht gesetzt. (Bild: Hersteller)

Nächstes Ziel Skandinavien


Zunächst will man sich in einer Testphase auf dem Heimatmarkt behaupten, doch dann steht die Expansion in andere europäische Länder an, wobei zunächst Skandinavien ins Visier genommen werden soll. Bis zum Ende des Jahrzehnts will Gürcan Karakaş insgesamt eine Million Fahrzeuge in fünf verschiedenen Segmenten produzieren. Diese sollen auf absehbare Zeit aus der neuen Fertigung nahe Gemlik in der Region Bursa kommen. "Es ist eine grüne Produktion im Nordwesten der Türkei am Marmara-Meer", unterstreicht Karakaş, "wir haben dort eine Größe von 1,2 Millionen Quadratmetern und können dort zum Start 175.000 Fahrzeuge pro Jahr fertigen. Dabei ist das Werk modulartig aufgebaut und wir können es problemlos jederzeit erweitern." Gemlik, die Heimat von Togg, ist eine der führenden Olivenproduktionsregionen der Welt. Insgesamt sollen für die neue Automarke über Zeitraum von zehn Jahren mehr als 3,5 Milliarden US-Dollar investiert werden.


Viel zu tun bei der Elektrifizierung der eigenen Flotte


Wie schnell die türkische Bevölkerung auf die Elektromobilität aufspringt, muss sich zeigen. Nach Angaben der Regulierungsbehörde für den Energiemarkt lag die Zahl der Ladestationen für Elektrofahrzeuge in der Türkei im Jahr 2021 bei gerade einmal 3457. Ein Drittel der Ladepunkte befindet sich davon in Istanbul gefolgt von Ankara und İzmir. In der Metropolstadt İstanbul sind 1265, in Ankara 320, in İzmir 235, in Antalya 162 und in Muğla 128 Ladepoints in Betrieb. Im Zeitraum Januar bis Mai 2022 stieg der Absatz von Elektroautos um 185,9 Prozent auf 1764 Stück. Der Anteil der Elektroautos am Gesamtabsatz erhöhte sich von 0,2 Prozent auf 0,8 Prozent. Der türkischen Regulierungsbehörde für den Energiemarkt EPDK zufolge waren Ende 2021 sechs Tausend E-Autos in der Türkei im Verkehr. Da gibt es viel zu tun, was gerade angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Türkei schwieriger denn je ist. Zuletzt lag die nationale Inflationsrate bei rund 80 Prozent.


02.08.2022/13:44/Von: Stefan Grundhoff

(C)https://www.heise.de/hintergrund/Elektroautos-Krieg-und-Teilemangel-Neue-Impulse-fuer-tuerkische-Autoindustrie-7199653.html

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